Weit über 1000 ungeklärte Tötungsdelikte zwischen den Jahren 1970 und 2015 in Nordrhein-Westfalen – das bedeutet umfangreiche Fall-Akten mit Ermittlungsansätzen, Erkenntnissen und aufschlussreichen Informationen zu den Opfern und den möglichen Tatverdächtigen. In einer sogenannten Cold Cases-Datenbank (CCD) werden seit 2017 all diese Akten sowie zusätzlich die Akten ungelöster Vermisstenfälle, in denen Tötungsdelikte zu Grunde liegen dürften, digital erfasst.
Insgesamt 28 ehemalige Ermittlerinnen und Ermittlern hat das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen seit dem 1. November diesen Jahres als Cold Cases-Unterstützungskräfte gewinnen können, die bei den erforderlichen, umfangreichen Aufgaben helfen. Erster Kriminalhauptkommissar Andreas Müller hat den Prozess von Beginn an begleitet. Im Interview erläutert der Sachgebietsleiter der Operativen Fallanalyse (OFA) beim LKA NRW, welche Überlegungen zur CCD und zur Zusammenarbeit mit den neuen Unterstützungskräften geführt haben.
Die digitale Erfassung der alten Akten läuft bereits seit 2017. Wie kam es dazu?
„Bei einer Dienstbesprechung im Jahr 2016 zum Thema ,Bekämpfung von Tötungsdelikten‘ tauschten wir uns darüber aus, wie wichtig es ist, alte Akten zu digitalisieren. Wir waren uns einig, so besser zu gewährleisten, dass die Akten und ihre wichtigen Inhalte erhalten bleiben können. Besonders bei ungeklärten Mordfällen und nicht gelösten Vermisstenfällen ist es auch nach Jahren wichtig zu wissen, welche Ermittlungsansätze verfolgt wurden und zu welchen Erkenntnissen man damals gekommen ist. Gleiches gilt für die Asservate. Nachdem ein entsprechender Erlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vorlag, startete 2017 eine erfolgreiche Pilotphase, die schließlich zum weiteren Ausbau der besagten CCD führte.“
Wie viele Akten wurden seither erfasst und welche Aufgaben sind damit verbunden?
„Es sind bisher rund 300 Akten in die Datenbank eingespeist worden. Die Arbeit, die damit verbunden ist, ist aufwändig und muss gewissenhaft mit Präzision vorgenommen werden. Einige wenige Akten, die vor Jahrzehnten angelegt worden sind, sind beispiels-weise in keinem guten Zustand. Die Mitarbeiter des Landesarchivs in Duisburg haben uns das Angebot unterbreitet, stark beschädigte Dokumente so aufzubereiten, dass die Informationen nicht verloren gehen. Allein daran erkennt man, wie ernst wir diese Aufgabe nehmen. Generell muss und wird jedes Dokument in die Hand genommen; es wird gelesen und eingescannt. Basierend auf einer festgelegten Struktur wird schließlich ein digitaler Meldebogen angelegt und in die Datenbank aufgenommen.“
Dieser Aufwand wird für Kisten voller Akten aus den örtlich zuständigen Behörden betrieben. Warum lohnt sich das?„Uns ist nicht nur daran gelegen, die Akten und Daten digital zu erhalten, um ein ordentliches Archiv aufzuweisen. Im Hinblick auf den Fortschritt der Spurensicherung und der Technik möchten wir die alten Fälle zur Aufklärung bringen. Bei der Einspeisung der Akten in die CCD erkennen wir möglicherweise fallanalytische Ansätze zur Herleitung der Tathergänge oder Motivlage die erneut verfolgt werden können. Das passiert auch nicht nur durch die Sichtung der Akten. Die Cold Cases-Datenbank und das einheitliche Schema bei den Meldebögen stellen sicher, dass künftig über sogenannte semantische Recherchen mittels intelligenter Texterkennungssoftware Tatzusammenhänge zu erkennen sind.“
Warum wurde der Zeitraum 1970 bis 2015 für die Datenbank festgelegt?
„Diese Jahreszahlen sind als Richtwerte zu verstehen. Auch eine Akte aus dem Jahr 1968 kann nach fachlicher Prüfung in die CCD aufgenommen werden. Die Chance, dass die Täter der ungeklärten Tötungsdelikte, die länger als 50 oder 60 Jahre zurückliegen, noch am Leben sind und verurteilt werden können, ist eher gering. Außerdem wird es immer schwieriger, die Wege der einzelnen Akten nachzuvollziehen, je weiter man in die Vergangenheit geht. Und aktuelle Fälle werden selbstverständlich fortlaufend erfasst – mit dem Jahr 2015 endet das digitale Archiv also nicht.“
Warum befassen sich ab sofort ehemalige Ermittler als sogenannte Cold Case-Unterstützungskräfte mit dieser Datenbank?
„Die umfassende Arbeit, die erforderlich ist, kann von den Kolleginnen und Kollegen in den örtlichen Behörden nicht neben den alltäglich anfallenden Aufgaben bewältigt wer-den. Und es ist natürlich nicht in unserem Sinn, sie zusätzlich zu belasten. Mit den Unterstützungskräften haben wir also neue Kräfte, die sich ausschließlich diesem Thema widmen. Dass es sich um ehemalige Ermittler handelt, ist ein großer Vorteil. Sie bringen aus ihrem Berufsleben ein wertvolles Erfahrungswissen mit, betrachten dennoch unvoreingenommen die Fälle, die ihnen zugewiesen wurden.“
Welchen ersten Eindruck haben die Cold-Case-Unterstützungskräfte auf Sie gemacht?
„Der erste Eindruck ist positiv, denn sie haben Ihre Arbeit mit demselben Gedanken auf-genommen, der damals zur Errichtung der CC-Datenbank geführt hat: Jedes Tötungsdelikt, selbst wenn es bereits Jahrzehnte zurückliegt, sollte aufgeklärt werden, damit die Täter zur Verantwortung gezogen werden können und die Angehörigen Gewissheit haben. Ganz unabhängig davon, was die neuen Kolleginnen und Kollegen früher geleistet haben und in welcher Funktion sie bei der Polizei tätig waren – sie sind sich nicht zu schade, Akten zu wälzen, Heftklammern zu lösen und Dokumente einzuscannen, um zu dieser Aufklärung beizutragen. Sie hinterfragen aber genauso die Sachverhalte, von denen sie lesen und helfen damit neue Ermittlungsansätze zu finden. Genau diese Art von Entlastung haben wir uns vorgestellt.“
(Das Interview führte Maren Menke, Pressesprecherin des LKA NRW.)