Diesen Parkplatz vor dem Dortmunder Präsidium kennt wohl jeder aus dem „Tatort“. Hievte sich da nicht eben noch Kommissar Faber aus dem Dienstwagen? Zerzaust und grantelnd wie üblich? Und diese Szene dort im Eingangsbereich wirkt wie dem Sonntagskrimi entsprungen. Eine ältere Frau liegt bewusstlos am Boden. Ein Polizist kümmert sich um sie. Rettungssanitäter eilen herbei. Kriminaloberkommissarin Chantal Boller hat da schon drei Stunden ihrer Wochenend-Frühschicht auf der K-Wache hinter sich. Es wird ein „wuseliger Tag“ werden.
Seit 5.30 Uhr in der Früh ist Boller, ein Mitglied von drei Teams der K-Wache, an diesem Samstagmorgen im Einsatz. Im Stadtteil Marten hat es in einem Wohnprojekt für psychisch Erkrankte gebrannt, in Hörde gab es ein Sexualdelikt, daneben Einbrüche in eine Schule sowie diverse Pkws und nicht zuletzt die Anfrage der Kollegen aus dem niedersächsischen Lingen, ob ein Team bei der Durchsuchung von zwei Wohnungen in Dortmund unterstützen könne.
Chantal Boller (28) sitzt in einem der fünf Schreibräume im Erdgeschoss des Präsidiums. Über ihr ein großes Foto mit typischer New Yorker Straßenszene. Vor ihr zwei Computer-Bildschirme. Eben erst ist sie von der Spurensicherung aus Hörde zurück. Opfer des Sexualdelikts ist eine psychisch kranke Frau aus der LWL-Klinik Aplerbeck, die angetrunken mit zwei Männern unterwegs war. Ein Zeuge hatte die Szenerie beobachtet und die Polizei alarmiert. Die junge Ermittlerin hat inzwischen die Kleidung des Opfers sichergestellt und zur Untersuchung in die Asservatenkammer gebracht.
Einen Raum weiter unterstützt ihr Teampartner Tim Dzikowski die Ermittlungen rund um den Brand in Marten. Es geht um Brandstiftung. Eine Bewohnerin des Hauses, noch in Pyjama-Hose und heruntergetretenen Pantoffeln, schlurft über den Flur. Sie soll den Tatverdächtigen kennen und vernommen werden.
Schon als Kind war Chantal Boller fasziniert von Kriminalgeschichten. „Mit acht oder neun Jahren bin ich in meiner Heimatstadt Meinerzhagen zur Polizei gegangen und habe gefragt, ob ich ein Praktikum machen könnte. Die Beamten meinten, ich solle in einer Woche wiederkommen. Doch als ich dort erneut auftauchte, lachten sie nur …“, erinnert sich die Kommissarin amüsiert.
Am Ende landet Boller bei der Kripo, studierte drei Jahre dual an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Hagen. Inzwischen, nach sechs Jahren als Ermittlerin, lehrt sie dort selbst nebenamtlich als Dozentin Kriminalistik und Kriminaltechnik. Eine steile Karriere.
„Chantal!? Eine Leiche in Aplerbeck!“, ruft Alina D., die Wachdiensthabende aus der „kleinen Leitstelle“ gegenüber. Sie steht mit allen Streifenwagen der Stadt in Verbindung, setzt die Teams ein. Sie weiß, wie die Lage vor Ort ist, welches K-Wachen-Team sich wo um was kümmert. „Jetzt sofort?“, fragt Boller. – „Nee, wir warten auf die Anforderung vom Streifenwagen!“
Dortmund und seine inzwischen berühmt-berüchtigte Nordstadt. Multikulti rund um den Borsigplatz. Charmant kiezig ist es dort, aber eben auch nicht ungefährlich. Die Nordstadt ist ein Kriminalitätsbrennpunkt – Straßenkriminalität, kriminelle Clanangehörige und rechte Gruppen prägen die polizeilichen Einsatzlagen. „Dortmund hat sich verändert“, sagt auch Chantal Boller. „Die einfache Körperverletzung gibt es kaum noch. Gefühlt ist bei jeder Tat ein Messer im Spiel.“
Eine Situation, die Einfluss auf das Sicherheitsgefühl der Polizistinnen und Polizisten hat. „Wir tragen stich- und schusssichere Westen. Und man guckt genau, mit wem man es zu tun hat“, sagt die 28-Jährige. Nach dem Vorfall in Ratingen mehr denn je. „Ich hab Gänsehaut bekommen, als ich das hörte. Ich war in Gedanken bei den Kollegen, aber es kam auch der Gedanke auf: Das kann uns hier auch passieren.“
„Chantal! Die Tote in Aplerbeck!“, ruft Alina D. und gibt das Signal, dass Chantal Boller dort nun erwartet wird. Ein Notarzt war in die Wohnung einer 91-jährigen Frau gerufen worden. Der Arzt kennt die näheren Umstände nicht und zieht routinemäßig die Polizei hinzu.
Boller und ihr Kollege Tim Dzikowski ahnen, was sie dort erwartet. Die Frau sei auf dem Weg zur Toilette im Bad zusammengebrochen, sagt die Tochter der Verstorbenen, die die Tür zur elegant eingerichteten Wohnung im Dortmunder Süden öffnet. Wenig später beugt sich Chantal Boller über die tote Frau, schneidet deren Nachthemd auf – sich selbst durch FFP2-Maske und Handschuhe vor Ansteckung schützend. Sie tastet die Frau ab, sucht nach möglichen Abwehrverletzungen, macht Fotos von der Toten. Ihr Kollege nimmt nebenan die Aussage der Tochter auf. „Es passt alles“, sagt Chantal Boller später, während sie ihre Utensilien desinfiziert. „Es gibt an ihrem Körper augenscheinlich keine Hinweise darauf, dass jemand ihren Tod verursacht hat.“
Der Bestatter klingelt. Chantal Boller schließt ihre Einsatztasche. Mehr gibt es hier nicht zu tun. Zurück ins Präsidium!
Eineinhalb Autostunden entfernt im ostwestfälischen Detmold hat Kriminalkommissarin Olivia Habermann ihre Nachtschicht längst hinter sich. Detmold, das ist ein 75.000-Einwohner-Städtchen mit Hochschulen und Behörden. Schon die an der Hauptstraße neben dem Kreishaus gelegene Polizeiwache Detmold, ein gemütlicher 80er-Jahre-Backsteinbau, vermittelt den Eindruck, dass hier noch alles in Ordnung ist.
Was nicht heißt, dass Olivia Habermann hier einen ruhigen Job hat. Im Gegenteil. Nachtschicht auf ihrer K-Wache bedeutet, dass sie und das Team allein zuständig sind für alles, was kriminalfachlicher Expertise bedarf. Und diese Nachtschicht hat es durchaus in sich. Schon kurz nach Dienstbeginn meldet sich die Guardia Civil aus Spanien, weil sie Informationen benötigt über einen aus Detmold stammenden Mann, den sie wegen des Verdachts der Urkundenfälschung festgenommen hat. Tatsächlich ist der Mann auch in seiner Heimat das, was man „hinreichend bekannt“ nennt.
24 Jahre jung ist Olivia Habermann. Auch sie wollte Ermittlerin werden, solange sie denken kann. Sie „brauche das Abenteuer“. Und sie möge den Schichtdienst: „Vor allem dann, wenn es turbulent ist.“
Kurz nach Mitternacht heißt es dann für Olivia Habermann und ihren Kollegen Schmid: Auf in Richtung Teutoburger Wald! Nahe der Externsteine, einem beliebten lippischen Ausflugsziel, hat jemand einen Toten entdeckt. Die Todesursache ist ungeklärt, der Fundort in der Dunkelheit schwer auszumachen. „Wir können von Glück sagen, dass die Streifenwagen und Funkgeräte inzwischen mit GPS ausgestattet sind und von der Leitstelle identifiziert werden können. Sonst hätten wir in den Tiefen des Teutoburger Waldes lange suchen können“, sagt die Ermittlerin.
Schon bald lassen sich die Puzzle-Teile zusammenfügen. Der Mann, der aus Niedersachsen stammt, hat Suizid begangen. Zu Hause war er offenbar von niemandem vermisst worden. In Detmold jedoch war vor Tagen sein Motorrad aufgefallen, das wie vergessen irgendwo parkte.
Schwarze Jeans, schwarzer Pulli, die Dienstmarke lässig am Karabinerhaken. Olivia Habermann ist nach einem Jahr Streifendienst zur Kripo gewechselt. Noch immer gibt es Einsätze, die sie zum ersten Mal erlebt und erst einmal bewältigen muss. „Schwer ist es, wenn Kinder Opfer werden“, erzählt Habermann. „Selbstverständlich gehören auch traumatische Erlebnisse zu unserem Job, doch ich habe einen Weg gefunden, gut damit umzugehen und das Berufliche nach dem Feierabend nicht in Gedanken mit nach Hause zu nehmen. Dabei hilft es zum Beispiel auch, mit Kollegen aus dem Team über Erlebtes zu sprechen.“ Sie betont: „In erster Linie geht es bei unserer lippischen K-Wache um Spurensuche und -sicherung – aber natürlich sind wir auch für Leichen zuständig.“
Zwei K-Wachen. Zwei Kommissarinnen. Eine Leidenschaft. Auf dem Weg nach Hause wird Olivia Habermann wie so oft einen Podcast hören. Crime natürlich. Zur Entspannung, wie sie sagt. Und Chantal Boller schwärmt von der Faszination ihrer Arbeit: „Der Streifendienst bringt uns jeden neuen Fall wie ein Paket. Wir packen es aus, zerlegen es und ermitteln, wie alles zusammengehört.“